AGHPT: Gesundheit und Krankheit

Internes Diskussionspapier der Arbeitsgemeinschaft Humanistische Psychotherapie (AGHPT)
– federführend: Werner Eberwein (info@werner-eberwein.de ), Stand 17.9.2010 –

Gesundheit

In einer Welt postmoderner Lebensentwürfe vor dem Hintergrund globaler Migration, der Amalgamierung von Kulturen und einer beschleunigten Veränderung und Pluralisierung der sozialen Beziehungen und Lebensweisen gehen wir von einer Vielfalt von potentiell befriedigenden Formen der Existenz- und Beziehungsgestaltung aus. Die Vorstellung von der klassischen, bürgerlichen Lebensweise ist nur eine von vielen möglichen Existenzweisen, die als gesund und potentiell befriedigend verstanden werden können. Der Humanistische Begriff von Gesundheit kann nicht mit Normalität im Sinne des gesellschaftlich durchschnittlichen oder kulturell Akzeptierten gleichgesetzt werden. Gesundheit im utopischen Sinn wäre durch optimale Befriedigung der Bedürfnisse eines Menschen gekennzeichnet, also sowohl
– der organisch-homöostatischen Grundbedürfnisse (z.B. nach Sicherheit, sozialer Zugehörigkeit, Nahrung, Spiel, Sexualität im biologischen Sinn), als auch
– der höheren, spezifisch menschlichen Wachstumsbedürfnisse i.S.v. Maslow (z.B. nach Sinn, kreativer Entfaltung, Herausforderung, emotionaler Integration, geistiger Befruchtung, Ausfaltung von Potentialen). Zentral für psychische Gesundheit ist die Fähigkeit zur emotionalen Selbst- und Beziehungsregulation im bio-psycho-sozialen Kontext. Gesundheit kann auch unter Belastung mit Hilfe von spezifischen Ressourcen und Schutzfaktoren (Resilienz) aufrechterhalten und stabilisiert werden. Gesundheit kann nie vollständig oder endgültig erreicht werden. Es handelt sich vielmehr um einen dynamischen Prozess des Erringens, Verlierens und Wiedergewinnens, der Destabilisierung und Restabilisierung, in dem Gesundheit durch Bewältigung von Krisen und Belastungen immer wieder errungen, erschüttert, bedroht, verloren, wiederhergestellt und restabilisiert wird.

Krankheit

Psychische Krankheit ist eine gravierende und sich über einen gewissen Zeitraum hin erstreckende (also nicht bloß momentane) Dysregulation der bio-psycho-sozialen Interaktion, die von Experten feststellbar ist, und in der Regel mit einem Empfinden von subjektivem Leid seitens des Betroffenen selbst oder in seinem sozialen Feld einhergeht. Ursachen von psychischer Krankheit sind biografische Traumata und Beziehungsstörungen (insbesondere Störungen der Emotionsregulation und Affektabstimmung) im somatischen und sozialen Kontext, die mit einem Mangel an Bewältigungsressourcen einhergehen und daher zu einem anhaltenden und nicht ohne Hilfe zu bewältigenden Dysstress führen, der subjektiv z.B. als nicht zu bewältigende Überlastung mit überwältigenden Gefühlen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit empfunden wird. Psychische Krankheit wird im Hier-und-Jetzt erlebt, aktiviert und aufrechterhalten, kann aber durch bloße Willensentscheidung nicht unmittelbar behoben werden. Manche Formen von psychischem Leid sind nicht krankhaft, obwohl sie gravierend sein können (z.B. akute Trauerreaktionen, angemessene Angst um den Arbeitsplatz, Angst vor der Freiheit im existenziellen Sinn, weltanschauliche Krisen). Ebenso gehen manche psychische Krankheiten nicht, nur teilweise, nur verzerrt oder verzögert mit psychischem Leid einher (z.B. ich-syntone und sozial eingebundene Süchte, abgespaltene Aspekte bei Persönlichkeitsstörungen, sozial verankerte Wahnsysteme).