Werner Eberwein: Was ist humanistische Psychotherapie? – Kurzfassung

Humanistische Psychotherapie versteht sich in der Terminologie des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP) als viertes Verfahren neben dem Cluster der Psychodynamischen Psychotherapie mit ihren insgesamt 22 Methoden, der Verhaltenstherapie mit ihren 55 Techniken und der Systemischen Therapie.

Die wichtigsten Quellen der Humanistischen Psychotherapie sind:

  • die Philosophie des Existenzialismus mit ihrem Hauptvertreter Jean-Paul Sartre und seiner grundlegenden Idee der Wahlfreiheit des Menschen und seiner sozialen Verantwortung,
  • die Phänomenologie nach Edmund Husserl mit ihrer Orientierung auf das unmittelbare Erleben,
  • die Hermeneutik nach Wilhelm Dilthey, Friedrich Schleiermacher und Hans-Georg Gadamer mit ihrer Konzeption des Verstehens geistiger Inhalte durch Einfühlung,
  • die Ethik des Humanismus mit seiner langen Geschichte von den Wurzeln in der Antike über Friedrich Niethammers Idee der allgemeinen Menschenbildung bis Carl Rogers Analyse der Voraussetzungen einer konstruktiven Patient-Therapeut-Beziehung,
  • die Berliner Schule der Gestaltpsychologie nach Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka mit ihrem Konzept der Ganzheitlichkeit des menschlichen Erlebens,
  • die Dialogphilosophie nach Martin Buber und Hans Trüb mit ihrer Idee der Ich-Du-Beziehung,
  • die Organismische Theorie nach Kurt Goldstein mit ihrer Beschreibung von somatopschischen Selbstregulationsprozessen und
  • die Humanistische Psychologie nach Abraham Maslow und Charlotte Bühler vor allem mit ihrer Theorie der höheren, spezifisch menschlichen Bedürfnisse.

Das Menschenbild der Humanistischen Psychotherapie setzt seinen Fokus auf das was spezifisch menschlich ist, was uns also – bei aller Liebe – von den Tieren unterscheidet.

  • In der Humanistischen Psychotherapie wird der Mensch als Subjekt betrachtet, dessen Erleben und die individuellen Motive seines Handelns in allmählicher Annäherung intersubjektiv verstanden werden können.
  • Der Mensch wird in seiner potentiellen Wahlfreiheit gesehen, die eine soziale Verantwortung für seine Mitmenschen und die Folgen seines Handelns mit sich bringt.
  • Er wird in seiner Fähigkeit zur Selbst- und Beziehungsreflexion aus der Dritten-Person-Perspektive,
  • zur Selbstempathie, also Einfühlung in sich selbst und
  • zur Einfühlung sowie zum Sich-Hineinversetzen in andere Menschen gesehen.
  • Humanisten gehen davon aus, dass Menschen das Bedürfnis haben, sich selbst in der Gemeinschaft zu verwirklichen,
  • ihre latenten Potenziale zu entfalten und
  • die Anteile ihrer Persönlichkeit zu einer dynamischen Ganzheit zu integrieren.
  • Der Mensch wird in seiner Fähigkeit gesehen, seinen eigenen Lebensweg durch wahlfreie Entscheidungen kreativ zu gestalten sowie
  • in seiner expliziten oder impliziten Ausgerichtetheit an Sinn und an Werten.

In der humanistischen Psychotherapie werden psychische Störungen als multiple Entfremdungen verstanden. Entfremdungen:

  • vom eigenen Körper und dem Körperempfinden
  • den eigenen Gefühlen und Zuständen,
  • von Bindungen, Abhängigkeiten und Beziehungen,
  • den eigenen Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen,
  • vom Selbstbild und der Selbstwahrnehmung, und
  • von Halt und Schutz gebenden Grenzen und psychosozialen Strukturen.

Diese Entfremdungen entstehen durch

  • Traumata, also eher einmalige oder aufeinander folgende, ähnliche Ereignisse,
  • zeitlich durchgängige pathogene Beziehungskonstellationen oder
  • existenzielle Mangelzustände, also das Fehlen an lebensnotwendigen Ressourcen

… insbesondere in Gestalt von:

  • Deprivation, also dem anhaltenden Fehlen von etwas, was ein Mensch für ein psychisch gesundes Leben braucht,
  • Invasion, dem gewaltsamen Durchbrechen schützender Identitätsgrenzen,
  • Repression, also Unterdrückung oder anhaltende Behinderung vitaler Lebensimpulse oder
  • Konfusion, massiv verwirrende Kommunikation durch mehrdeutige Botschaften oder unvereinbare Aufforderungen.

… in vulnerablen Zuständen, vor allem in der Kindheit.

Die Patient-Therapeut Beziehung in der Humanistischen Psychotherapie fokussiert auf:

  • bedingungslose Akzeptanz und Wertschätzung des Patienten als ganze Person,
  • empathisches Verstehen in Wechselwirkung mit dialogische Auseinandersetzung und
  • die Arbeit mit psychovegetativen Resonanz- und Wiederherstellungsprozessen.

Der therapeutische Prozess wird in der Humanistischen Psychotherapie verstanden als:

  • dialogisch, also verbal und nonverbal interaktiv, intersubjektiv und kooperativ,
  • erlebensorientiert, also auf das aktuelle Erleben auch fernliegender, zurückliegender oder zukünftiger Erfahrungen und
  • emotionsfokussierend, also auf Gefühle und ganzheitliche Körperempfindungen ausgerichtet.

In der Humanistischen Psychotherapie wurde eine große Vielfalt von Interventionstechniken entwickelt, die ich hier nicht im Detail darstellen kann. Sie gehen von

  • verbalen Techniken, also detailliert beschriebenen Formen des verstehenden, hinterfragenden und gegebenenfalls konfrontativen Gesprächs über
  • darstellende Techniken wie zum Beispiel interpersonale oder intrapersonale Rollenspiele,
  • körperorientierte Techniken wie Körperwahrnehmungs-, Körperausdrucks- oder Atemarbeit,
  • imaginative Techniken wie Fantasiereisen oder Focusing, bis hin zu
  • psychotherapeutischer Arbeit mit kreativen Medien wie Malen oder Arbeit mit Instrumenten.

Die Ziele der Humanistischen Psychotherapie sind kurz gefasst:

  • die Förderung des Gewahrseins des Patienten für sein eigenes Erleben, seine Einstellungen und besonders seine Interaktionsmuster,
  • das Aktivieren ungenutzter Potenziale und Resilienzfähigkeiten,
  • die Integration abgespaltener, vermiedener oder tabuisierte Anteile,
  • die Erweiterung der Wahlfreiheit und die Ermöglichung von Neuentscheidungen und
  • das haltgebende Stabilisieren labiler psychischer Strukturen.

In den letzten Jahrzehnten wurden mit längerer Verzögerung eine ganze Reihe als produktiv erkannte Essentials der Humanistischen Psychotherapie eher bruchstückhaft in modernen Varianten der Richtlinienverfahren wie beispielsweise in der Schematherapie, der Akzeptanz- und Commitment-Therapie und der intersubjektiven und relationalen Psychoanalyse übernommen, leider nicht immer mit ausreichend detaillierter Angabe ihrer Humanistischen Quellen.