Werner Eberwein: Welche Veränderungen kommen 2017 auf die PsychotherapeutInnen zu?

Mehr Bürokratie, mehr Kontrolle –
Wie der G-BA am Problem vorbei agiert

Mit der Neuregelung der Psychotherapie-Richtlinie durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) werden eine ganze Reihe von zum Teil sinnfreien Mehrleistungen durch die Psychotherapeuten eingeführt, deren Vergütung zurzeit vollkommen offen ist. Mit der Neuregelung kommt außerdem ein Mehr an bürokratischer Kontrolle auf die Psychotherapeuten zu. Am Hauptproblem (den langen Wartezeiten für Patienten) agiert die Neuregelung komplett vorbei.

Aufgrund des vom Bundestag beschlossenen und am 23.7.2015 in Kraft getretenen GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes erging ein Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA), eine Strukturreform der Psychotherapierichtlinie zu erarbeiten. Diese wurde vom GBA am 16.6.2016 beschlossen und inzwischen (trotz einiger Beanstandungen im Detail) vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Kern abgesegnet. Die neue Regelung wird am 1.4.2017 in Kraft treten und hat erhebliche Auswirkungen auf die Tätigkeit von Psychotherapeuten.

Die Ziele der Neuregelung waren:

  • Die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz (im deutschlandweiten Durchschnitt zurzeit vier Wochen bis zum Erstgespräch, sechs Wochen bis Beginn der Psychotherapie, in Berlin im Durchschnitt drei Monate bis Erstgespräch, sechs Monate bis Beginn der Psychotherapie) sollten verringert werden.
  • Der Unterversorgung mit Psychotherapie für bestimmte Patientengruppen (besonders Akut-und Schwerkranke) sollte entgegengewirkt werden.
  • Die Steuerung der Psychotherapie-Suchenden im Hinblick auf verschiedene (auch außer-psychotherapeutische) Angebote sollte verbessert werden.

Was ist der Gemeinsame Bundesausschuss?
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) bestimmt den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung und legt fest, welche Leistungen von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden. Der G-BA besteht aus:
– 1 Vorsitzenden
– 2 unparteiischen Mitgliedern
– 5 Vertretern des Spitzenverbandes der Krankenkassen
– 5 Vertretern der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft
Daneben nehmen bis zu 5 Vertreter von Patientenverbänden an den Sitzungen teil, sie haben aber kein Stimmrecht.

Folgende Änderungen der Psychotherapie-Richtlinie hat der GBA beschlossen:

  • Niedergelassene Psychotherapeuten müssen (!) mindestens 2 Stunden die Woche persönliche und mindestens 5 Stunden die Woche telefonische Sprechzeiten anbieten, wenn sie das Erstzugangsrecht für Patienten behalten, also nicht auf Überweisungen angewiesen sein wollen.
  • In den persönlichen Sprechstunden (die vor den probatorischen Sitzungen stattfinden müssen) muss künftig die Diagnostik und Indikationsstellung für (oder gegen) Psychotherapie geleistet werden. Patienten müssen vor Beginn einer Psychotherapie mindestens 100 Minuten Sprechstunde absolviert haben, es sei denn, die Indikation für Psychotherapie wurde bereits von einer Klinik oder einem anderen Psychotherapeuten oder Arzt gestellt.
  • Die telefonischen Sprechzeiten sind delegierbar, z.B. an Praxispersonal (das zurzeit kaum ein Psychotherapeut hat), an Dienstleister wie z.B. Callcenter oder an Ausbildungspraktikanten (PiA’s). Die Kosten dafür müssen vom Psychotherapeuten übernommen werden.
  • Pro Patient können maximal 6 Einheiten à 25 Minuten oder 3 Einheiten à 50 Minuten Sprechstunde durchgeführt werden. Die Sprechstunde dient der Indikationsstellung für Psychotherapie oder der Empfehlung alternativer Angebote (z.B. Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, therapeutische Wohngemeinschaften, sozialpsychiatrische Dienste, medizinische Behandlung, stationäre Behandlung, andere Psychotherapeuten, Psychiater, Reha-Einrichtungen o.ä.). Die Sprechstunden können offen oder mit Terminvereinbarung angeboten werden. In der Sprechstunde muss der Patient „eingehend“ über die unterschiedlichen Psychotherapieverfahren und den Ablauf einer Psychotherapie informiert werden. (Wie das alles ggf. in einer einmaligen Sprechstunde von 25 Minuten zu bewältigen sein soll, wüsste ich gerne mal.)
  • In der Sprechstunde müssen „in der Regel“ psychologische Tests durchgeführt werden, um die Störung des Patienten zu diagnostizieren.
  • Die Ergebnisse der persönlichen Sprechstunde inklusive der Diagnose und der Empfehlungen des Psychotherapeuten für die weitere Behandlung müssen (!) dem Patienten in schriftlicher Form in Form einer “individuelle Patienteninformation“ ausgehändigt werden.
  • „Gemeinsam mit dem Patienten“ muss (!) zu Beginn und am Ende der Psychotherapie ein detaillierter Standard-Dokumentationsbogen ausgefüllt werden, der dem Patienten auf Verlangen ausgehändigt und bei einer folgenden Langzeittherapie dem Gutachter zugeschickt werden muss. Diese beinhaltet die Diagnose, detaillierte Informationen zum persönlichen Hintergrund und den persönlichen Lebensumständen des Patienten und die Ergebnisse von (verpflichtenden!) Testverfahren. Wie genau diese Dokumentation gestaltet werden muss, ist zurzeit noch nicht klar. Das Bundesministerium für Gesundheit hat diesen Punkt aufgrund datenschutzrechtlicher Bedenken beanstandet.
  • Mit Akutpatienten (z.B. bei Selbstmordgefährdung) können maximal 24 Einheiten à 25 Minuten Akutbehandlungdurchgeführt werden. Auch diese muss „angezeigt“ statt „beantragt“ werden, wird dann aber auf eine Kurz- oder Langzeittherapie angerechnet sofern diese in der Folge beantragt wird.
  • Die probatorischen Sitzungen werden von derzeit maximal 5 auf maximal 4 gekürzt.
  • Die Kurzzeittherapie wird von derzeit 25 auf 24 Sitzungen gekürzt, wobei diese in zwei Abschnitte à zwölf Sitzungen unterteilt werden. Was bisher „Antrag“ an die Krankenkasse auf Kurzzeittherapie hieß, soll künftig „Anzeige“ heißen. Wenn die Krankenkasse nach drei Wochen darauf nicht reagiert, gilt die Kurzzeittherapie automatisch als genehmigt. Die Begutachtungspflicht für Kurzzeittherapie (von der die meisten Psychotherapeuten sowieso schon befreit sind) entfällt generell.
  • Psychotherapeuten können künftig Patienten zur Behandlung in ein Krankenhaus einweisen, wobei das Krankenhaus anschließend die Notwendigkeit einer Behandlung in der Klinik noch einmal feststellen bzw. bestätigen muss.
  • Bei der VT-Gruppentherapie wird die Gruppengröße auf mindestens 3 Teilnehmer, bei psychoanalytischen Gruppen auf 3 bis 9 Patienten festgelegt.
  • Künftig müssen Psychotherapeuten ihre Sitzungen mit vorgegebenen Standard-Dokumentationsbögendokumentieren. Wie diese genau aussehen werden, ist zurzeit noch unklar.
  • Bei Bedarf müssen die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen innerhalb einer Woche Sprechstunden-Termine an anfragende Patienten vermitteln. Wenn die Terminservicestellen innerhalb von vier Wochen keinen ambulanten Psychotherapieplatz nachweisen können, müssen stattdessen die Krankenhäuser für die betreffenden Patienten ambulante Psychotherapie-Angebote machen (die dann auf Kosten der Vergütung der ambulanten Psychotherapeuten aus dem Gesamtbudget bezahlt werden). Sofern die Terminservicestellen dem Patienten einen (!) freien Psychotherapeuten nachweisen können, erlischt ihre Aufgabe, auch dann, wenn der Patient z.B. wegen mangelnder Passung die Therapie bei diesem Therapeuten nicht beginnen will.
  • Das Kontingent für den ersten Antrag auf Langzeittherapie wird verlängert. Die Behandlungsschritte sind zukünftig:
    – zuerst mindestens 50 Minuten, höchstens 150 Minuten Sprechstunde (obligatorisch),
    – danach maximal 4 Sitzungen Probatorik (oder ggf. maximal 24 Einheiten 25 Minuten Akutbehandlung, die auf eine folgende Kurz- oder Langzeittherapie angerechnet wird),
    – danach maximal 12 Sitzungen Kurzzeittherapie (gilt als bewilligt, wenn die Kasse nach 3 Wochen keine Benachrichtigung schickt),
    – danach nochmal 12 Sitzungen Kurzzeittherapie, macht zusammen 24 Sitzungen Kurzzeittherapie,
    – dann gutachterpflichtiger Antrag auf weitere 36 Sitzungen (sowohl für TP als auch für VT) Langzeittherapie, macht zusammen 60 Sitzungen,
    – dann weitere Anträge möglich, wie bisher bei VT bis maximal 80 Sitzungen, bei TP bis maximal 100 Sitzungen (ob mit Gutachter oder ohne liegt künftig im Ermessen der Krankenkasse, aber immer mit Gutachter im Falle einer Ablehnung),
    – für Fortführung darüber hinaus muss man dann mühsam (und oft erfolglos) den Gutachter überzeugen.
  • Der Psychotherapeut kann zu Beginn (!) der Psychotherapie beantragen, dass die letzten Sitzungen der Psychotherapie über bis zu 2 Jahre hinweg niederfrequent als Rezidivprophylaxe verwendet werden, was aber dann innerhalb des Stundenkontingentes der Richtlinientherapie stattfinden muss. Dafür können bei Langzeittherapie von bis zu 60 Stunden 8 Stunden und bei Langzeittherapie von mehr als 60 Stunden 18 Stunden aus dem Kontingent abgezweigt werden.
  • Psychotherapeuten dürfen künftig Reha-Maßnahmen, Soziologietherapie und Krankentransporte beantragen.
  • Künftig wird es statt der gemeinsamen Gutachter für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie eigene Gutachter für Tiefenpsychologie geben.

Im Prinzip geplant ist auch eine Überarbeitung der Bedarfsplanungsrichtlinie, wann und wie ist zurzeit komplett unklar.

Die Probleme der Neuregelung:

  • Weiterhin werden nur Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie und Analytische Therapie kassenfinanziert, nicht aber Systemische und Humanistische Psychotherapie, trotz deren internationaler Anerkennung und dem empirischen Nachweis ihrer Wirksamkeit.
  • In der Regel stellen Psychotherapeuten derzeit die Diagnose und die Indikation für Psychotherapie im Gespräch aufgrund einer biografischen Anamnese, meistens ohne Zuhilfenahme psychologischer Testverfahren. Dafür, dass diese Methode durch Zuhilfenahme von Testverfahren verbessert werden kann, gibt es keine wissenschaftliche Evidenz. Dagegen spricht jedoch, dass die persönliche Anwendung von Testverfahren durch den künftigen Psychotherapeuten die Beziehung zum Therapeuten auf problematische Weise beeinträchtigt und den Aufbau eines therapeutischen Vertrauensverhältnisses behindern kann.
  • Es ist zurzeit vollkommen unklar, wie der beschlossene, erhebliche Mehraufwand der Psychotherapeuten honoriertwerden sollen (und aus den Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte bin ich an dieser Stelle von Optimismus weit entfernt).
  • Die angekündigte Änderung der Bedarfsplanung wird, wenn überhaupt, dann nur sehr langfristig erfolgen, und ihr Ergebnis ist zurzeit komplett unklar. Zu befürchten ist, dass wiederum eine Bedarfsplanung herauskommen wird, die, wie auch schon die derzeitige, den realen Bedarf nicht angemessen abbildet.
  • Die Differenz zwischen realem Bedarf und in der Bedarfsplanung vorgesehenem Angebot an Richtlinientherapeuten wird zurzeit hilfsweise durch die approbierten Kollegen ohne Praxissitz abgedeckt, die in der Kostenerstattung arbeiten. Bis heute weigern sich die Krankenkassen, zu veröffentlichen, in welchem Umfang sie Kostenerstattung in der Psychotherapie finanzieren – dadurch wird der reale Bedarf an Psychotherapie in der Öffentlichkeit gezielt verschleiert. (Jeder niedergelassene Psychotherapeut weiß aber, dass der Bedarf an Psychotherapie wesentlich höher ist, als er, ohne der vollkommenen Erschöpfung anheimzufallen, erfüllen kann.) Hier handelt es sich um ein Systemversagen in großem Stil. Dennoch können Kostenerstattet künftig erst nach dem Besuch eines Patienten in einer Sprechstunde eines Niedergelassenen und aufgrund dessen Empfehlung und Indikationsstellung tätig werden. Sie dürfen selbst keine Sprechstunden zu Lasten der Krankenkassen anbieten.
  • Weiterhin können Tiefenpsychologen 20 Sitzungen mehr abrechnen als Verhaltenstherapeuten, was weder evidenzbasiert noch wirtschaftlich ist.
  • Die Aufteilung der Kurzzeittherapie in zwei Blöcke à 12 Stunden ist ein bürokratischer Unsinn, der zu einer sinnfreien Verdoppelung des Schriftverkehrs führt.
  • Weil die Akutbehandlung auf eine darauf gegebenenfalls folgende Kurz- bzw. Langzeittherapie angerechnet wird, ist diese Regelung eine reine Mogelpackung.
  • Die Regelung zur Rezidivprophylaxe ist eine komplett misslungene Pseudolösung, denn weder kann ein Therapeut zu Beginn der Psychotherapie wissen, ob bei einem Patienten am Ende der Therapie langfristige niederfrequente Sitzungen zur Rezidivprophylaxe erforderlich sein werden, noch wird dadurch das zur Verfügung stehende Sitzungskontingent erhöht. Hier wäre die Möglichkeit sinnvoll und erforderlich gewesen, bei Bedarf langfristig bis lebenslang niederfrequente Sitzungen (z.B. für chronische Patienten) durchzuführen.
  • Das eigentlich avisierte Hauptproblem, das gelöst werden sollte, nämlich die langen Wartezeiten der Patienten, wird durch die beschlossenen Neuregelungen in keiner Weise verbessert, denn das Gesamtkontingent des Angebots an Psychotherapie bleibt unverändert. Eine Verbesserung wäre nur möglich gewesen, wenn aufgrund einer angemessenen Bedarfsplanung in relevantem Umfang neue Zulassungen für Psychotherapeuten ermöglicht worden wären, um den offensichtlichen Mehrbedarf nach Psychotherapie bewältigen zu können. Dies wird sowohl von den Vertretern der Krankenkassen als auch von den Kassenärztlichen Vereinigungen mit Hinweis auf die angeblich klamme Finanzlage abgelehnt (wobei inzwischen bekannt sein dürfte, dass die Ausgaben für ambulante Psychotherapie nur einen winzig kleinen Teil des Gesamtbudgets der Kassenärztlichen Vereinigungen ausmacht). Im Endeffekt stehen ab 2017 die Patienten und die Psychotherapeuten unverändert vor der Situation, dass deutlich mehr Patienten in die Sprechstunde kommen, bei denen eine Indikation für Psychotherapie vorliegt, als der Psychotherapeut tatsächlich behandeln kann. Weiterhin wird er nicht wissen, wohin er diese Patienten schicken soll. Daher müssen weiterhin die Kostenerstatter zumindest einen Teil der überschüssigen Nachfrage abfangen. Zusätzlich wird künftig ein relevanter Teil der Angebotsmöglichkeiten der niedergelassenen Psychotherapeuten durch den Mehraufwand durch die Sprechstunde blockiert. Die scheinbare Lösung des Problems verschärft also in Wirklichkeit das Problem.
  • Für die Sprechstunde, die ja primär der Zuordnung von Patienten zu verschiedenen (auch nicht-psychotherapeutischen) Angeboten dienen soll, müssten die Psychotherapeuten eigentlich über gründliche und aktuelle Kenntnisse sämtlicher relevanter zur Verfügung stehender Angebote verfügen, was de facto in keiner Weise der Fall und realistisch kaum herzustellen ist. Die Vermittlung nicht-psychotherapeutischer Angebote wäre eigentlich eine Aufgabe für Sozialarbeiter in entsprechenden Beratungsstellen.
  • Um die telefonischen Sprechzeiten zu gewährleisten, müssen Psychotherapeuten künftig entweder Praxispersonal einstellen oder (psychotherapeutisch komplett unqualifizierte) Callcenter beauftragen und bezahlen, oder PiAs durch kostenlose Arbeit ausbeuten. Es ist nicht wirklich zu erkennen, was der große Unterschied zwischen einem nicht psychotherapeutisch qualifizierten Telefondienst und einem Anrufbeantworter sein soll, auch wenn Ersterer aus einem realen Menschen am Telefon besteht.
  • Eine wesentlich sinnvollere, zieldienlichere und einfachere Regelung wäre es gewesen, statt zusätzlich Sprechstunde, Akutbehandlung und Rezidivprophylaxe einzuführen, die probatorischen Sitzungen und die Gesprächsziffern für Psychotherapeuten angemessen zu honorieren.
  • Kritisiert wird auch der skandalöse Zustand, dass es trotz prekärer Versorgungslage möglich ist, dass gewinnorientierte Unternehmen ohne psychotherapeutische Leitung (z.B. medizinische Versorgungszentren) Praxissitze aufkaufen und auf diesen dann zu ungünstigen Konditionen approbierte Psychotherapeuten ohne Praxissitz anstellen und den Honorarüberschuss für sich selbst profitorientiert abschöpfen können.

Werner Eberwein